Der Bau der Urfttalsperre


 

Josef Lorbach, langjähriger Mitarbeiter der Kölnischen Rundschau, verfasste diesen Bericht zur Entstehung des Urftsees mit vielen Geschichten & Episoden, die sich während und nach dem Bau der Staumauer ereigneten und das Leben in Wollseifen veränderten.

 

 

 

Trotz intensiver Recherche konnten nicht alle Quellen der Fotos und Skizzen des Berichts ermittelt werden. Bitte um Nachsicht.

 


Die Urfttalsperre war einmal Europas grösster Stausee


Vor dem königlichen preussischen Notar Doemens in Stolberg wurde am 28. März 1899 der Akt über die Gründung der „Rurtalsperren-GmbH“ mit Sitz in Aachen ausgefertigt. Die Gründer der Gesellschaft waren der Oberbürgermeister der Stadt Aachen und die Landräte der Kreise Aachen-Land, Düren, Schleiden, Jülich, Heinsberg und Monschau (damals noch Montjoie).
Noch im gleichen Jahr wurde mit den Bauarbeiten begonnen. Das grosse Werk wurde 1904 vollendet. Am 7. Dezember 1904 wurden die Grundablässe der Talsperre geschlossen und mit dem Anstau begonnen. Erstmalig war der Vollstau am 1. März 1905 erreicht – und mit donnerndem Getöse stürzte die weissschäumende Flut in den über 50 m tiefen Abgrund.

Die Urfttalsperre war damals die grösste und höchste Talsperre auf dem europäischen Kontinent. Sie wurde 1912 durch die Möhnetalsperre übertroffen. Sie hatte ein Zuflussgebiet von 375 qkm mit einem durchschnittlichen Jahreszufluss von 170 Millionen cbm Wasser.

Das Kraftwerk Heimbach


Am Auslauf des Urfttalstollens im Rurtal bei Hasenfeld wuchs das Kraftwerk Heimbach aus dem Boden. Der Bau des Stollens war von der Urftseite und auch von der Rurseite in Angriff genommen worden. Am 27. Mai 1903 waren die Bautrupps etwa in der Mitte des Stollens zusammengetroffen. Danach hatte man zwei Druckrohrleitungen mit je 1,50 m Durchmesser im Stollen verlegt.
Im Kraftwerk wurden acht Fransis-Turbinen, die bei 1 Umdrehung/Minute max. 20.000 PS zum Antrieb der Generatoren erzeugten. Die von den Generatoren erzeugte elektrische Leistung betrug durchschnittlich 12.000 kW. Der in einer Spannung von 5000 Volt erzeugte Strom wurde im Kraftwerk auf die damals aussergewöhnlich hohe Spannung von 35.000 Volt hochtransformiert und es entstand damals der noch neue Name “Überlandzentrale“ für das Kraftwerk Heimbach.
Zum Stromtransport und zur Verteilung mussten ein Hochspannungsnetz von 160 km und ein Mittelspannungsnetz von 230 km Länge, mit 23 Umspannstationen mit Wärterwohnungen und elf Schalthäuser errichtet werden.
Die ersten Stromverbraucher waren überwiegend Lichtverbraucher, aber 1907 überwog bereits der Stromverbrauch der Kraftstromabnehmer. Für Grossverbraucher und Kreise betrug der Strompreis 4,1 Pfennig je kWh.
1913 hatte man die Unzulänglichkeit des Wasserkraftwerks als alleinige Stromquelle erkannt. Zwei Wärmekraftwerke der Stadt Aachen sprangen in die Bresche und etwas später wurde in Eschweiler-Pumpe ein weiteres Wärmekraftwerk errichtet, bis schliesslich auch noch die 1913 gegründete Braunkohlen-Industrie-Aktiengesellschaft „Zukunft“ in der Stromversorgung aushalf.
Am 1. April 1922 schlossen die Rurtalsperren-Gesellschaft und die Braunkohlen-Industrie-Aktiengesellschaft „Zukunft“ einen Betriebsgemeinschaftsvertrag, wonach das Kraftwerk Zukunft die gesamte Stromerzeugung und die Verteilung übernahm, während die Ruhrtalsperren-Gesellschaft Eigentümerin ihrer Anlagen blieb und die Urfttalsperre und den Stollen in eigener Verwaltung unterhielt.
Aus wasserwirtschaftlichen Gründen und auf Drängen der wasserverbrauchenden Industrie der Rurniederung wurden dann in den Jahren 1932 bis 1934 die Ausgleichsbecken in Heimbach und Obermaulbach gebaut.

Der Krieg forderte Tribut.


Im Ersten Weltkrieg wurde die Urfttalsperre und der Stollen von Landstürmern bewacht und kam ohne Schäden davon. Der Zweit Weltkrieg jedoch ging nicht so spurlos an der Urfttalsperre vorbei. Obwohl militärisch bewacht und durch Sperrballone gegen Fliegerangriffe abgeschirmt, erlitt die Urfttalsperre und das Kraftwerk doch noch erhebliche Schäden am Ende des Krieges.

 

Die Stromabgabe musste am 2. Februar 1945 eingestellt werden. Deutsche Pioniereinheiten sprengten am 11. Februar 1945 die Stollenverschlüsse auf der Rurseite. Die entfesselten Fluten, mit Tausenden Tonnen Geröll und Sand, begruben das Kraftwerk unter sich. Auch die Sperrmauer selbst hatte durch Bombentreffer erhebliche Schäden davongetragen, so dass es zum Wiederaufbau der kriegszerstörten Anlagen der Zeit von 1945 bis 1950 bedurfte.
Am 1. November 1965 wurde die Rurtalsperren-GmbH in Rurtalsperrenverband umbenannt und am 1. Januar 1969 fusionierten der Rurtalsperrenverband, der Wasserverband Schwammenauel und der Wasserverband Obermaulbach zum „Talsperrenverband Eifel-Rur“. Interessant scheint auch noch die Feststellung, dass im Kraftwerk Heimbach von 1905 an 1.643.000.000 kWh Strom erzeugt wurden, wozu 11.200.000.000 cbm Wasser erforderlich waren.

Die Vorbereitungen zum Bau des Staudamms.


Der Ingenieur Professor Dr. Otto Intze, Leiter der Technischen Hochschule in Aachen, erhielt den Auftrag die Planung und die Errichtung dieses gewaltigen Bauwerks zu übernehmen.
Der Entwurf Intzes bestimmte für die Absperrung der Urft eine Stelle „am Winkel“, in der Luftlinie etwa 7 km unterhalb von Gemünd, dem Lauf der Urft folgend aber 12 km unterhalb von Gemünd. Eine Trasse für die Arbeitsbahn musste entlang des felsigen Hanges vom Bahnhof Gemünd zur Baustelle geführt werden. Mehrere Klüfte mussten durch Holzbrücken überwunden werden. Der Kostenaufwand belief sich auf 250.000 Mark. Die Arbeiteranzahl erreichte zur Sommerzeit 800. Italiener waren vorherrschend. Alle Verordnungen waren neben deutsch auch in italienisch gehalten.
Durch den Weidenaueler Berg wurde ein rund 150 m langer Stollen getrieben, um die Baustelle trocken zu legen. Am 17. Mai 1901 wurde die Urft mittels eines aufgeworfenen Erddammes in den Kanal abgeleitet. Fortan dient der am Nordrand der Sperrmauer herbeiführende Stollen zur Entlastung bei Hochwasser. Er gestattet einen Wasserdurchlass von 100 cbm/s., während die bis dahin registrierte Wassermenge der Urft bei 80 cbm lag. Vor Füllung des Beckens wurde er auf einige 20 m mit einem in den Felsen eingreifenden Betonklotz geschlossen, in den 2 Rohre von 70 cm Durchmesser eingebaut sind, deren Schieber durch einen Bedienungsschacht zugänglich sind.
Im Sommer 1901 wurde mit den Bauarbeiten an der Sperrmauer begonnen. Es waren Gründungstiefen von 4 bis 6 m erforderlich. Vor der Herstellung des Fundamentstauwerks wurden alle Felsrisse mit flüssigem Zementmörtel abgedichtet.
Grauwacke wurde 6 bis 7 km aufwärts bei Krummenauel reichlich gewonnen und über ein Nebengleis des Bähnchens zur Baustelle transportiert. Brüstungen und Abdeckungen wurden aus Niedermendig herangeholt. Sand lieferte das Mechernicher Bergwerk.
Der Mörtel wurde fast trocken verarbeitet und bestand aus 1,5 Teilen Trassmehl und 1,75 Teilen Sand auf 1 Teil Weisskalk. Er wurde in einem elektrisch betriebenen Mörtelwerk hergestellt. Die Hebung des Baumaterials besorgten drei, mit Dampfwinden versehene hölzerne Hebetürme. Die durchschnittliche Tagesleistung stellte sich bei flottem Betrieb auf 300 cbm Mauerwerk. Gemauert wurde von März bis Oktober. Am 29 April 1901 wurde der Grundstein zur Sperrmauer gelegt und im Herbst 1903 war der Rohbau fertiggestellt.
Die Mauer besitzt eine grösste Höhe von 58 m. Die grösste Sohlenbreite beträgt 50,50 m und die Sohlenlänge 50 m. Die Mauer ist im Grundriss nach einem Radius von 200 m gekrümmt und hat eine grösste Stauhöhe von 52,50 m auszuhalten. Ihre Kronenlänge beträgt 226 m. An der Beckenseite erhebt sie sich 34 m über der Fundamentsohle mit einer 1:2 geböschten und abgeflasterten Erdschüttung hinterlegt. Der Gesamt-Inhalt mit Kaskaden beträgt 155.000 cbm mit einem Gesamtgewicht von 320.000.000 kg. Die Kronenbreite der Sperrmauer, einschliesslich der Brüstungen beträgt 5,50 m.
Die Kosten für die Sperrmauer, einschliesslich des Grunderwerbs im Urfttal beliefen sich auf 4.000.000 Mark. Das entspricht einem Preis von 9 Pfennig pro cbm gestauten Wassers. Das ist der niedrigste Preis, der jemals beim Bau einer Talsperre erreicht wurde. Die Nebenarbeiten, wie Verblendung, Verputz und Bekrönung mit einer eisernen Brustwehr zogen sich bis in den Herbst 1904 hin. Die Hänge im Staubereich wurden abgeholzt und an Ort und Stelle verbrannt.
Die Bauarbeiten am Druckstollen von der Sperrmauer bis zum Kraftwerk Heimbach wurden auf der Urftseite am 1. Oktober und auf der Rurseite am 1. November in Angriff genommen. Am 27. Mai 1903 erreichten beide Baukolonnen etwa auf der Mitte des Stollens den Durchbruch.
Auf einer Strecke von 2800 m war der Stollen unter dem Kermeter hergetrieben worden und stellte nun einen etwa 2,50 bis 3,00 m hohen Durchlass zwischen dem Urft- und dem Rurtal dar. Die Aussprengung erfolgte durch Bohrungen von Hand und durch den Einsatz elektrisch betriebener Bohrmaschinen. Als Sprengstoff wurde Dynamit verwendet. Im Urfttal befand sich eine elektrische Zentrale mit einer Spannung von 1200 Volt, die an der Gebrauchsstelle auf 220 Volt herabgesetzt wurde.
Das relativ geringe Gefälle von einem Meter erforderte des öfteren ein Abpumpen des eindringenden Wassers. Wegen des blähenden Tonschiefers musste die Betonschicht stellenweise von 0,28 cm bis zu 0,80 cm verstärkt werden. Auch während der kältesten Winterszeit konnte im Stollen gearbeitet werden.

Hochrufe auf Kaiser Wilhelm.


Die Grundsteinlegung an der Sperrmauer fand am 29. Juli 1901 statt. In einem festlich geschmückten Sonderzug trafen die geladenen Gäste gegen Mittag an der mit Flaggen und Tannengrün geschmückten Baustelle ein.
Unter diesen Gästen befanden sich u. a.: Oberpräsidialrat Freiherr von Coels, Koblenz, in Vertretung des Oberpräsidenten der Rheinprovinz; Regierungspräsident von Hartmann, Aachen; Landrat Pastor, Aachen; Landrat von Breuning, Düren; Landrat von Schlechtendal, Schleiden; Landrat von Guérard, Montjoie; Landrat Vüllers, Jülich; Landrat Scheibler, Heinsberg; Oberbürgermeister Veldmann, Aachen; Beigeordneter Dr. Talbot, Aachen; Geheimer Kommerzienrat Kesselkaul, Aachen; Kommerzienrat Kierdorf, Aachen und Geheimer Regierungsrat Professor Dr. Otto Intze, der Erbauer der Talsperre.
Geschäftsführer Landrat Pastor richtete ein herzliches Grußwort an die Festversammlung. Wasserbauinspektor Frentzen überreichte die Urkunde der Grundsteinlegung, die von den anwesenden Herren unterschrieben wurde.

Die Festansprache hielt Professor Dr. Otto Intze. Er verwies auf die grossen Schäden, die bislang durch das Hochwasser der Rur und damit auch der Urft verursacht wurden. Durch den Bau der Urfttalsperre sollten nun diese Schäden vermieden werden. Der Talsperre falle die Aufgabe zu, die Fluten zu bändigen und die Wasserkraft in Segen umzuwandeln. Alle bisher in der Rheinprovinz und in Preussen errichteten Talsperren würden von der Urfttalsperre um das 15-fache übertroffen. Die Urfttalsperre sei die grösste Europas.
Professor Intze sagte, Ingenieure und Bauunternehmer dürften von den hier aufkommenden Zahlen nicht erschrecken. Die hier zu bauende Sperrmauer habe einen horizontalen Wasserdruck von 160 Millionen kg standzuhalten. Diesem Druck würde nun eine Staumauer von 320 Millionen kg entgegengesetzt. Der Redner hob hervor, man stehe erst am Anfang eines grossen Werkes und das entlastende Wort könne den Ingenieuren und Bauunternehmern noch nicht ausgesprochen werden.
Auch dürften Erzgeiz und Geldgewinn niemals die Triebfeder für die Errichtung dieses gewaltigen Bauwerkes sein. Anschliessend überreichte Oberbürgermeister Veldmann die unterschriebene Urkunde, die in einer Blechbüchse in den Grundstein eingemauert wurde. Dann echote ein Hoch auf Seine Majestät den Kaiser in den Bergen wider. Oberpräsidialrat Coils bemerkte, dass der Hohenzollernfürst dem Wasserbau seine besondere Fürsorge angedeihen lasse.

„Die Kraft des Wassers, durch die Kunst der Ingenieure bezwungen, bringe reichen Segen unserem Lande, das walte Gott“, oder auch „Ein Denkmal des deutschen Geistes, eine Vereinigung deutscher Kräfte, möge das Bauwerk Jahrtausende überdauern“. Diese und anderer Sätze wurden ausgesprochen, als die zahlreichen Hammerschläge auf den Grundstein fielen. Danach besichtigte die Festversammlung die Baustelle. Gegen drei Uhr begaben sich die Gäste zum Festmahl in das Hotel Bergemann in Gemünd.
Aus Anlass der voraufgegangenen Grundsteinlegung sandte die Rurtalsperren-Gesellschaft ein Grußtelegramm an den Kaiser in Berlin. Das Telegramm hatte folgenden Wortlaut: „Eurer Majestät treu gehorsame Rurtalsperren-Gesellschaft meldet, dass heute der Grundstein, der nach den Plänen des Geheimrates Intze von sieben rheinischen Kreisen zu erbauenden Urfttalsperre, der grössten Europas, in dankbarem Gedenken an Seine Majestät, dem huldreichen Förderer von Industrie und Technik, unter Teilnahme der Staatsbehörden feierlich gelegt worden ist.
Oberbürgermeister Veldmann, Vorsitzender des Aufsichtsrates
Pastor, Geschäftsführer“


Das wenig später eintreffende Antworttelegramm des Kaisers lautete: „Seine Majestät der Kaiser und König lassen der Rurtalsperren-Gesellschaft für den anlässlich der Grundsteinlegung der Urfttalsperre übersandten Huldigungsgruß bestens danken.
Auf allerhöchsten Befehl des Geheimen Kabinettsrates. In Vertretung:
von Valentini, Geheimer Regierungsrat.

Der „Rauchert" erzählt von seiner Arbeit.


Vor einer Reihe von Jahren trafen wir den damals 78-jährigen „Rauchert“ auf einer Feldwiese, am Rande des Truppenübungsplatzes Vogelsang, bei der Ernte. Sein Gesicht war zerfurcht und braun wie Leder vom Wetter, von der Sonne und vielleicht auch vom Krieg und seinen Nachwehen.
Die Berge, die Wälder und der See da unten sind ihm ein Begriff, den man mit einem Wort „Heimat“ beschreiben könnte. Von Anfang bis Ende war er vor damals 60 Jahren, beim Talsperrenbau dabei. Er erzählte uns seine Geschichte.
Mit der Kreuzhacke fing es an und dann blieben Hacke und Schaufel Trumpf, bis die Talsperre fertig war. Gott trennte Wasser und Erde, denn am zweiten Schöpfungstage sprach Gott: „Das Wasser unter dem Himmel sammle sich an einem Ort und es erscheine das Trockene. Und so geschah es. Das Trockene nannte Gott Erde und das Wasser nannte er Meer. Bald begannen die kurzsichtigen Menschen an dem Geschaffenen herumzupfuschen und es entstand eine Wassernot, damit musste die Kreuzhacke her.

So war es an einem steilen Felsen, da unten an der Pulvermühle, unterhalb Malsbenden, als Rauchert sich, noch nicht 17-jährig, als Bauarbeiter beim Talsperrenbau meldete.
“He, du Kleener, eine Schippe hoast du wohl, nur ein Nummer zu kleen. Doa nimm dir schon die Kreuzhacke, doa die grosse“, sagte der dicke schnauzige Meister, als wir da unten anfingen, einen Weg durch die felsigen Steilhänge für das Bähnchen zu ebnen, das die Verbindung zwischen Gemünd und der geplanten Urfttalsperre herstellen sollte.

Der harte Brocken „Huppeley“.


Mit ein paar Mann haben wir da unten angefangen und standen mit dem grauen Schieferfelsen bald auf du und du, aber an der Huppeley haben wir uns die Zähne ausgebissen. Die war mehr als 20 m hoch und hart wie Eisen. Der Arbeiter wurden von Tag zu Tag mehr, Italiener, Bayern, Kroaten und Polen kamen hinzu. Die verfluchten Gott und das harte Gestein. Die Flüche aber reichten nicht aus zum Steinerweichen. Wir mussten hacken, dass die Funken stoben. Männer mit Steinbohrern und Fausthämmern kamen uns zu Hilfe und schwere Sprengschüsse ließen bald das ganze, ehemals so stille Tal erzittern.
An der Huppeley hatten wir Schule gemacht und mit etwas mehr Mut gingen wir an die Wehrley und an den Durchbruch am Schragenhevvel heran. Am Schragenhevvel erlebten wir eines Tages eine tolle Überraschung: Unvermittelt donnerte ganz in unserer Nähe ein Sprengschuss los.
Da hatte doch so ein pfiffiger Laufjunge, der täglich die stumpfen Bohrer zur Schmiede brachte, sich selbstständig gemacht und im Laufe von Wochen ein beachtliches Bohrloch in den Felsen geschlagen. Dann hatte er so im Vorbeigehen dem Sprengmeister eine gehörige Portion Sprengstoff und ein Stück Zündschnur aus der Kiste gemaust. Jetzt hatte er sein wochenlanges Werk mit einer Sprengladung gekrönt, die die ganze Talsperre, vom Kaffeejungen bis zum Bauleiter, in helle Aufregung versetzte.
Im Sommer 1900 hatten wir dem Bähnchen den Weg gebahnt und wir gingen in den kleinen Stollen, der die Urft während der Bauzeit umleiten sollte. Hier waren die Bodenverhältnisse nicht weniger hart und steinig. Zum harten Gestein gesellte sich noch das Wasser der Urft, das uns ständig an den Fersen saß.

Zum Abpumpen des Urftwassers erhielten wir bald eine elektrisch betriebene Pumpe. Wir probierten an diesem neuen und großartigen Wunderding herum und stellten fest, dass man sich daran verdammt elektrisieren konnte. Dazu kam gerade wie gerufen, der gute brave Aloys aus Rurberg und dem wollten wir doch unsere Entdeckung kundtun.
Wir bildeten eine Kette rings um das Wundertier. Der linke Flügelmann der Kette berührte die Pumpe und der Mann am anderen Ende der Kette hatte die Nase des guten Aloys im Griff und der schrie und zappelte wie ein Fisch an der Angel.
Diese Vorführung hat uns Aloys nie vergessen. So und ähnlich war unsere harte  Arbeit immer wieder gewürzt, mit Schabernack und tollen Streichen. Die Geschichte von der Talsperre aber wäre nicht vollständig, wollten wir diese Episoden nicht auch erzählen.

„Dröckchen“ plauderte im Gasthof May mit Arbeitern und Ingenieuren.


Sieben Jahre lang, bis 1906, war sie Mädchen für alles im Gasthof von Franz May in Wollseifen. Hier erlebte sie den Bau der Urfttalsperre, von den ersten Vermessungsarbeiten bis zur Vollendung der Bauarbeiten und dem ersten Kaskadenüberlauf am 1. März 1905.
Sie unterhielt sich mit den planenden und bauleitenden Ingenieuren ebenso wie mit den Arbeitern, die aus vieler Herrn Länder zum Talsperrenbau in das bis dahin stille Wollseifen gekommen waren. Noch in ihrem hohen Alter erzählte sie oft und gern aus ihren Erlebnissen und besonders vom Bau der Urfttalsperre. Hören wir ihr zu:
Bevor es laut wurde in unserem stillen Dorf, waren immer nur ein paar Männer zum Kartenspiel, hin und wieder auch ein Geschäftsreisender und im Sommer auch schon einmal ein paar Malersleut’ in unserer Gaststube. Die bemoosten Strohdächer auf den Fachwerkhäusern im Dorf hatten es den Malern angetan. Sie saßen oft tagelang vor solch einem Strohdach.
Einmal kam einer am einem Herbsttag mit strahlendem Gesicht zurück und erzählte, er habe für sein Bild mit dem Wollseifener Strohdach auf einer Ausstellung in Düsseldorf den ersten Preis bekommen.
Eines Tages kam ein lebenslustiger junger Bursche und wollte gleich für ein paar Monate Quartier bei uns. Ein Maler, dachte ich zunächst, aber das konnte nicht sein, Maler hatten so viel Geld nicht. Er war Ingenieur und er sagte, dass unten im Urfttal ein Talsperre gebaut würde. Mit einigen Arbeitern kletterte er den ganzen Tag durch die Hänge und unten und hantierte mit weissroten Messlatten und anderen Geräten herum.
Bei schlechtem Wetter und auch abends saß er auf seinem Zimmer, zeichnete Striche und Zahlen in seine Pläne und schimpfte über die rußige Petroleumlampe. Dann wurde es einige Monate wieder still bei uns. Im Dorf gab es aber nur noch ein Gespräch, die Talsperre.

Der dicke Moretti schimpfte über die harten Steine.


Im späten Sommer kam dann der dicke Moretti, ein „Ausländer“ aus Sachsen. Er warb einige Arbeiter im Dorf an und schon bald klapperte eine Bohrmaschine unten im Tal. Der dicke Meister fluchte und schimpfte abends schrecklich über die Berge und die harten Steine, die ihm den Bohrer an seiner Maschine immer wieder stumpf machten.
Mit der Ruhe im Dorf war es aus. Es kamen fremdaussehende Männer aus Polen, Kroatien, meistens aber aus Italien. Unten im Tal wuchsen grosse Barackenlager und bald wimmelte es da wie in einem Ameisenhaufen.
Unterhalb Malsbenden begannen die Männer mit dem Bau der „Strecke“. Fast waagerecht verlaufend, am rechten Uferhang entlang, bahnte sie einen Weg durch das harte Gestein bis ins Haftenbachtal. Nach monatelanger Arbeit puffte und zischte das „Bähnchen“ zwischen Gemünd und dem Haftenbachtal.
An den Hängen, besonders im Amselbachtal und am Neffgesberg entstanden riesige Steinbrüche. Gewaltige Sprengungen liessen das ganze Tal erzittern.
Abends hatten wir einen Mordsbetrieb in der Gaststube und wir erlebten den Bau richtig mit. Die Italiener im Dorf waren zumeist anständige und gesittete Jungen, die ihren verdienten Lohn regelmäßig nach Hause schickten.
Anders war es schon mit den Kroaten und Polen, die unten in den Baracken wohnten. Wenn die sonntags ins Dorf kamen, dann war immer der Teufel los. Dann hatte ich es schwer, mit all den Sprachen fertig zu werden und so manche sprachliche Verwechslung brachte schallendes Gelächter in unsere Gaststube.
Noch bevor das mächtige Bauwerk fertig war, kamen von Belgien und von sonst weit her Herrschaften in feinen Luxuskutschen, um die wachsende Talsperre zu bestaunen. Von diesen Herrschaften erfuhren wir dann auch, was man draussen in der Welt von der Urfttalsperre hielt – und das war großartig!

Der kleine Bach soll so eine grosse Talsperre füllen?


Vor einem schmucken Häuschen in Nierfeld sitzt der 82-jährige Giovanni Maria Sitta. Nichts greisenhaftes ist an ihm, er aalt sich in der Sonne. Sie erinnert ihn an seine Heimat und so pfeift er ein italienisches Liedchen vor sich hin.
Was wir von ihm wollen? – Nun, er ist noch einer von den inzwischen alt gewordenen Talsperrenbauarbeitern und sogar der letzte hierzulande noch lebende Italiener von der Urfttalsperre. Hier ist seine Geschichte:
Pellegai im Kreise Belluno in Oberitalien, war seine Heimat. Gleich zwei Heilige, St. Lorenz und St. Martinus hielten ihre Hand schützend über das Dorf. Giovanni aber musste schon mit 18 Jahren in die Fremde, denn Vater Sittas Landwirtschaft konnte die neun Kinder nicht ernähren. Italien hatte wohl nie genug Platz für seine Söhne. So nahm Giovanni sein Felleisen und wanderte über die Alpen. Auf einer Baustelle in Zürich füllte er sein Reisegeld auf und kam im verregneten April 1900 nach Deutschland.
Er hatte Glück. Weil er daheim, beim Vater den Umgang mit Pferden gelernt hatte, nahm ihn ein italienischer Kolonialwarenhändler als Kutscher. Er belieferte Kantinen und italienische Arbeiterquartiere entlang einer im Bau befindlichen Eisenbahnstrecke im Odenwald.
„Das war eine schöne Zeit“, strahlt Giovanni. Bald aber trieb ihn die Wanderlust weiter nach Deutschland hinein. Aus war es mit der schönen Zeit. Mit 19 Pfennig Stundenlohn und nur drei Tagen Arbeit in der Woche schlug er sich in der sächsischen Braunkohle kläglich durchs Leben.
Ein Heimatfreund Giovannis, dem er seine Not geschildert hatte, schrieb ihm einen Brief. Der Brief enthielt eine Freudenbotschaft, die ihm ein neues Leben und eine Braut bringen sollte: „Komm in die Eifel und bringe noch elf Landsleute mit. Hier wird eine Talsperre gebaut.“

So kam Giovanni an einem trüben Septembertag des jungen Jahrhunderts mit elf jungen Leuten nach Wollseifen. Die Frankfurter Baufirma Philip Holzmann stellte die zwölf Schwarzköpfe sofort ein und schickte sie in den großen Steinbruch am Geißenberg. Im Lager hatte es sich schon bald herumgesprochen, dass Giovanni etwas von Spagetti und Risotto verstand - und so wurde er im Lager Koch für alle. Wollseifen war das an der Baustelle am nächsten gelegene Dorf. Die Leute in Wollseifen waren gastfreundlich und weil die Eifeler Mädchen die italienischen Glühaugen so schrecklich aufregend fanden, fühlten sich die Italiener in Wollseifen bald wie zu Hause. Dass aber Wollseifen nicht ganz italienisch wurde, dafür sorgten die Wollseifener Burschen, denn Eifersucht ist in der ganzen Welt die Polizei der Liebe.
Giovanni erinnert sich: „Einmal wurde in der Nähe des großen Steinbruches der Geldbriefträger überfallen und übel zugerichtet. Das ging natürlich auf die Kappe der Italiener und sah nach Raubüberfall aus. „Das war aber kein richtiger Raubüberfall“, erhitzte sich Giovanni, „das war pure Eifersucht, denn davon verstehen wir Italiener etwas.“


Zu diesem Fall meldete sich nach dem Erscheinen des Berichts von Josef Lorbach die Tochter des damals überfallenen Geldbriefträgers, Elisabeth Schöller vom Haus Rurblick in Heimbach und stellte folgendes richtig:
Mein Vater wurde im März 1904 von dem Erdarbeiter Sabatino Z. meuchlings überfallen. Z. wusste nämlich, dass mein Vater an diesem Tage sehr viel Geld mit sich führen musste und verstand es so einzurichten, dass er meinen Vater traf, ohne dass sonst jemand in der Nähe war.
Er grüsst ihn, lässt ihn an sich vorbeigehen, um kurz darauf den ersten Schuss auf ihn abzufeuern (Lungensteckschuss). Als mein Vater sich zu ihm umdreht, erhält er den zweiten Schuss/Querschläger durch die Wange). Anschließend schlägt er ihn mit einem Stock auf den Schädel und wirft ihn eine Böschung hinab, wo mein Vater auf einem kleinen Pfad besinnungslos liegen blieb. Die Ohnmacht muß kurz gewesen sein, mein Vater erwachte und sieht Z. oben seine Geldbrieftasche durchmausen.
Mit letzter Kraft ist es meinem Vater gelungen, auf dem Pfad weiterzulaufen, wo er einem Ingenieur in die Arme fiel, nur noch den Namen „Z“ sagen kann und dann die Besinnung verliert.
Durch die Nennung des Namens war es möglich, den Verbrecher noch am gleichen Tag kurz vor der luxemburgischen Grenze festzunehmen. Mein Vater wurde in die Bonner Universitätsklinik eingeliefert, wo ihn der damalige Professor Dr. Bier zurechtflickte.


Am 26.9.1904 wurde Z. wegen versuchten Raubmordes in Aachen zu 10 Jahren Zuchthaus verurteilt, was dann am 18.10.1904 vom Reichsgericht in Leipzig bestätigt wurde. Nach Verbüßung von sieben Jahren ist Z. im Zuchthaus gestorben.


Doch wieder zurück zu Giovanni, der uns weiter berichtet: „Das war ein Leben! 32 Pfennig Stundenlohn, später sogar 40 Pfennig, dazu das nahrhafte Leben in der Küche.“
Ein Glas Bier kostete 10 Pfennig und ein Schnaps 5 Pfennig. Auf dem Geißenberg „In der Arche“, das war Samieskies europäische Kantine, konnte man damals manchen Stundenlohn flüssig werden sehen. Hier konnte man alles kaufen, aber hier gab es auch manche Händel.
Alle Italiener lachten damals verächtlich über das kleine Urftwässerchen und bemerkten fragend: „Das soll eine Talsperre werden?, die wird in zehn Jahren nicht vollaufen.“ Andere Anzüglichkeiten ließen die Italiener nicht laut werden, denn schliesslich waren 40 Pfennig Stundenlohn einem schon einen missglückte Talsperre wert. Wie haben aber dann die Italiener gestaunt, als bereits im März 1905 die Talsperre vollgelaufen war und das „Urftwässerchen“ als schäumende Gicht mit donnerndem Getöse die 50 m tiefen Kaskaden hinunterschoss.
Ob nun dieses Schauspiel des gewaltigen Wasserfalls unserem Giovanni den letzten Rest gegeben hat – oder hat es ein Wollseifener Mädchen fertiggebracht, ihn von deutscher Wertarbeit zu überzeugen? Giovanni lächelt. Wir wissen nur, dass dieses Wollseifener Mädchen ihm vor einem Eifeler Traualtar die Fessel anlegte. Giovanni ist in der Eifel geblieben und ist, wie er selbst sagte, hier glücklich geworden.
Nur ab und zu pfeift er ein italienisches Liedchen vor sich hin, aber das war immer so, bei den Italienern von der Urfttalsperre. „Ja, ja“, lächelt Giovanni, „der Zug zur Eifel lag schon bei meinen Vorfahren, den Römern im Blut und ist auch so manchem Römer zum Verhängnis geworden, aber es ist eine gute Mischung geworden: blond und schwarz.“

Das kleine flinke Kerlchen.


Auf dem Marienplatz in Gemünd trafen wir einen Feriengast. Er war Einzelgänger und nicht mehr gerade der Jüngste. Er suchte Ufers Fabrik. „Die muss doch hier irgendwo gestanden haben“, meinte er. Wir konnten ihm einige Auskünfte geben und gesellten uns zu ihm. „Fritz Hicks aus Honnef“, stellte sich der Feriengast vor. Dann erzählte er uns aus seinem Leben und da war er bald beim Bau der Urfttalsperre:
„So ganz fremd bin ich hier nicht, wenn ich auch viele Jahrzehnte in der Fremde war. Ich bin ein Wollseifener Junge und hier in Gemünd, in Ufers Fabrik begann mein arbeitsreiches Leben. Von hier aus schleppten mich meine Arbeitskameraden mit in Fesenmeyers Sägewerk, zum Schänzchen binden. Einen Pfennig gab es für jedes Schänzchen. Bald aber trat eine Wende ein, die für mein ganzes Leben entscheidend sein sollte.“
Man sprach davon, dass unten im Tal eine Talsperre gebaut werden sollte. Im Hochsommer 1899 kam aus Elbing die Firma Fehring. Mit ein paar Leuten begannen wir unterhalb Malsbenden mit dem Bau eines Weges, der sich fast waagerecht, talabwärts durch die Hänge ziehen sollte. Der Schachtmeister, den die Arbeiter „et Heinche“ nannten, suchte ein kleines flinkes Kerlchen. Ich meldete mich. Mir wurde aufgegeben, die stumpfgewordenen Hacken entlang der Baustelle einzusammeln und sie zur Schmiede zu bringen. Dem Schmied musste ich den Blasebalg in der kleinen Feldschmiede treten.
Für „et Heinche“ musste ich täglich einen Liter Schnaps in der Kantine auf dem Geißenberg holen. Das Essen für ihn holte ich bei Reudenbachs, die an der Pulvermühle wohnten.

Nach Beendigung der Wegebauarbeiten kam die grosse Firma Holzmann. Mit dem Talsperrenbau wurde es ernst. An den Hängen links und rechts der Urft entstanden grosse Steinbrüche. Von Gemünd aus wurde eine Arbeitsbahn bis zur jetzigen Sperrmauer gelegt. Durch die Vermittlung von Heinchen kam ich zum Eisenbahnpersonal.
Zugführer war der Alloys, ein Bayer und der „Stürmer Hannes“ war Lokomotivführer. Ich, das kleine Kerlchen, wurde Dritter im Bunde. Unser Bähnchen war ein kombinierter Güter- und Personenzug mit drei Personalklassen. Die tollkühnen Fahrten des „Stürmer Hannes“ und seine bayrischen Flüche liessen mir oft die Haare zu Berge stehen.
Abends mussten wir manche Sonderfahrt einlegen, wenn sich die Bauräte wieder einmal bei einer Konferenz verspätetet hatten. In Gemünd in der Neustraße hatten wir eine schwierige Steigung zu bewältigen, so dass unser Maschinchen es nur fauchend schaffen konnte. Dazu haben und die Lausbuben von Gemünd in dieser Steigung zur Neustraße das Leben oft sauer gemacht. Sie bestrichen die Schienen mit Schmierseife und ich, das kleine Kerlchen musste vor der Lokomotive herlaufen und Sand streuen.
1904 musste ich zur Musterung. Ich wollte zur Infanterie. Von meinen Spargroschen hatte ich mir schon vorzeitig eine schwarze Hose mit roten Biesen gekauft, aber das Schicksal wollte es anders.
Der damalige Schleidener Landrat von Schlechtendahl sagte bei der Musterung einfach: „So ein Kerlchen gehört zur Marine, wir im Kreise Schleiden sind stolz darauf, auch einmal einen bei der Marine zu haben“.
So ging ich dann trotz der schwarzen Hose mit roten Biesen auf die „Hulk“ in Wilhelmshaven. Im ersten Jahr meines Seemannslebens kehrten wir etwa den halben Februar mit einem Torpedoboot nach Wilhelmshaven zurück. Hier feierten wir noch nachträglich Kaisers Geburtstag. Für die Feier war ich für die Bedienung der Offiziere und Gäste eingeteilt worden.
Ein Herr in Zivil, mit „hohem Vatermörder“ lächelte mich an und sagte: „Mensch, Kerlchen, du hast dich aber prima rausgemacht“. Er schleppte mich zum Kompaniechef und sagte: „ Das ist das Kerlchen von der Urfttalsperre“. Tablett und Serviertuch wurden beiseite gelegt und ich musste zwischen den Damen der beiden Herren Platz nehmen und ihnen von den tollkühnen Fahrten an der Urfttalsperre berichten.
Da kannte mich dann auch der Bauführer Grelinger wieder, der inzwischen Regierungsbaurat in einer Werft in Wilhelmshaven geworden war. Durch seine Vermittlung kam dann das kleine Kerlchen von der Urfttalsperre in das „Bergwerk“, den Maschinenraum des Schiffes, wo ich das Rüstzeug für mein späteres Leben erhielt.
Die Talsperrenjahre sind dem Feriengast aus Honnef sein Leben lang in Erinnerung geblieben und in seinen alten Tagen zog es ihn noch oft zurück an die Ufer der Urfttalsperre.

Das letzte Schulmädchen von Krummenauel.


Vor einigen Jahren hat die Erde des Hürtgenwaldes sie zugedeckt, Annchen Pleuß, das letzte Kind von Krummenauel, aber vorher erzählte sie noch ihre Geschichte:
Um die Mittagszeit eines Apriltages im Jahre 1904 geleitete eine Bauersfrau von dem stillen Weiler Krummenauel ihr noch nicht sechsjähriges Töchterchen Annchen über den aus zwei Baumstämmen primitiv zusammengefügten Laufsteg am „kleinen Bächelchen“. Annchen machte ihren ersten Schulweg in das auf der Höhe liegende Dorf Wollseifen. Drei Kilometer betrug Annchens Schulweg, mit einem Höhenunterschied von mehr als 150 Metern.
Von dem Holzsteg ab, der über das kleine Wasser führte, sollte Annchen erstmalig den Weg ins Dorf allein zurücklegen. In einem Körbchen trug Annchen ein Ei und ein paar Äpfel als Wegzehrung mit sich. In einer Schultasche waren ein paar Schulsachen, die für den ersten Schultag gefordert wurden. Bei der Tante im Dorf hielt sie noch kurz Einkehr. Sie war nicht wenig stolz darauf, das letzte Stück des Schulweges allein zurückgelegt zu haben.
Annchens Großmutter war an diesem ersten Schultag etwas in Sorge und meinte, man könne das Kind da unten aus der Einöde, dem andere Kinder fremd seien, doch nicht so allein zur Schule gehen lassen und die Tante ging auch mit in die Schule.
Eine muntere Kinderschar tollte auf dem grossen Schulhof. Die spielenden Mädchen hatten eine lange Kette gebildet. Annchen entschlüpfte der schützenden Hand der Tante, stellte Korb und Schultasche an die graue Steinmauer der Schule und reihte sich selbstbewusst in die Kette der spielenden Mädchen ein.
In der Schule erzählte der Lehrer seinen Schulneulingen eine Geschichte von einer Bauersfrau, die ihre Ziegen über eine kleine Brücke führte und wie dann die Ziegen unachtsam waren und ins kalte Wasser fielen. Da jauchzte Annchen auf und rief: „Das war meine Großmutter, das habe ich gesehen“. Damit war das erste Eis dann auch schon gebrochen. Froh und mutig ging sie fortan ihren Schulweg allein.
Beim Überschreiten des Steges am kleinen Bächelchen dachte Annchen immer wieder an die Ziege, die ins Wasser gefallen war und dann war Annchen besonders vorsichtig. Der Schulunterricht dauerte von ein bis drei Uhr nachmittags. Gegen halb fünf Uhr hielt die Mutter Ausschau nach ihrem Kind und war immer froh, wenn sie das kleine blonde Ding durch den ausgefahrenen Felsenweg an der Linnertsley kommen sah.

Bis Anfang Oktober 1904 hat Annchen diesen Schulweg gemacht, mutig und unverdrossen. Sie war um diese Zeit das einzige, dann aber auch das letzte Schulkind von Krummenauel, das den Schulweg nach Wollseifen machte.
Am 4. Oktober 1904 war das aufsehenerregende und gigantische Bauwerk, die Sperrmauer der Urfttalsperre soweit vollendet, so dass in Kürze mit dem Anstau gerechnet werden musste. Die Bewohner von Krummenauel mussten ihre Heimat verlassen und fanden in Wollseifen ein neues Zuhause.
Ein Erlebnis wurde es für Annchen, als ihre Eltern sie und ihr Brüderchen Ende Oktober desselben Jahres auf das Kartoffelfeld auf dem „Glücksrott“ mitnahmen. Von hier aus konnten sie noch einmal ihre alte Heimat sehen. Beim Anblick der verlassenen Gehöfte war Annchen nicht mehr zu halten.
Sie erinnerte sich plötzlich, dass ihr graue Katze Anfang Oktober nicht mit nach Wollseifen gekommen war. Also nahm sie ihr Brüderchen bei der Hand und rannte spornstreichs den steinigen Weg hinunter nach Krummenauel. Verzweifelt suchten die beiden Kinder zwischen den verlassenen Häusern und Gärten nach der grauen Katze, die aber verschollen blieb.
Inzwischen hat Annchen nun noch ein zweites Mal ihre Heimat verlassen müssen, damals, als im Jahre 1946 das Dorf Wollseifen in den Truppenübungsplatz Vogelsang einbezogen wurde. Annchen hat mit anderen Wollseifener Dorfgenossen eine neue Heimat gefunden. Nach langer Ungewissheit ist sie mit den ihren mutig und zuversichtlich daran gegangen, auf der zerwühlten und verbrannten Erde des geschichtlich gewordenen Hürtgenwaldes eine neue Heimstatt zu errichten. Danach ging sie den Weg alles Irdischen und ihre Dorfgenossen haben sie mit der Erde des Hürtgenwaldes zugedeckt.

Die Urfttalsperre wurde Touristenattraktion.


Mit dem Vollstau der Urfttalsperre wandelte sich das Bild einer ganzen Landschaft. Silberklare Wasserfluten begruben auf einer Fläche von 216 Hektar Talwiesen, ein paar Gehöfte und die gröbsten Spuren der riesigen Baustelle unter sich.
Das Wild ringsum in den Wäldern musste neue Fährten ziehen und Wasservögel wurden heimisch. An den Ufern des Sees siedelten sich bis dahin fremde Pflanzen und Blumen an.
Auf den Höhen bei Wollseifen, wo bis dahin der Ginster sozusagen bis vor die Haustüren stand, strich der Wind bald über wogende Kornfelder. Trotz des Verlustes der saftigen Talwiesen, die die Wollseifener der Talsperre hatten opfern müssen, waren die Erträge der Landwirtschaft höher als vorher. Mit der zunehmenden Mechanisierung der Landwirtschaft wurden die bemoosten Strohdächer immer weniger im Dorf, denn woher sollten die Bauern das handgedroschene Stroh für die Dächer nehmen?
Auf dem See hatte der Schiffseigner Paul Koenen aus Bonn die Schifffahrtsrechte erworben und schon bald tuckerten die kleinen Boote „Caroline“ und „Elsa“ über den See. Kaiser Wilhelm II. und andere prominente Persönlichkeiten, aber auch viele hunderttausend Touristen und Ausflügler waren die Fahrgäste.

Die Familie Krahe übernahm die Nachfolge Koenens und der Grundstein für das große Familienunternehmen „Rursee-Schifffahrt“ auf der Talsperre Schwammenauel war gelegt.
Im Laufe der Jahre entstanden an den Ufern des Urftsees ganze Wochenendkolonien und Badebuchten. Auf dem See tummelten sich Paddelboote noch und noch. Die Urfttalsperre war zu einem wahren Ferien- und Wochenendziel geworden. Der Fremdenverkehr wurde zu einem bedeutenden Wirtschaftsfaktor für die ganze Region. Die Urfttalsperre war eine Attraktion geworden.
In den dreissiger Jahren wurde dann der Westwall gebaut und mit dem Ferienparadies nahm es ein rasches Ende. Westwallarbeiter und Soldaten bevölkerten zu Tausenden das Land. Aber es sollte noch schlimmer kommen.
In der letzten Phase des Zweiten Weltkrieges wurden die Sperrmauer und das Kraftwerk in Heimbach Ziel tausender Bomben und Granaten. Die Urfttalsperre und mit ihr die größere Schwammenaueler Talsperre wurden für die Amerikaner zum „Eifelspuk“, den es vom Hürtgenwald aus zu überwinden galt, wobei zehntausende alliierte und deutsche Soldaten haben verbluten müssen.
Dr. Heinrich Heinen und P. C. Ettighofer haben dieses Eifeldrama in ihrem Großbericht „Talsperren machen Weltgeschichte“ treffend geschildert.

Über 1200 Bombentrichter wurden gezählt.


Als 1945 der Eifelspuk vorbei war, wurden an der Sperrmauer auf kleiner Fläche über 1200 Bombentrichter gezählt. Das Kraftwerk in Heimbach war, nachdem deutsche Pioniere den Stollenverschluss im Kampfgeschehen gesprengt hatten, regelrecht unter Kies und Geröll begraben. Das einstige Paradies am Urftsee war zu einer riesigen Kraterlandschaft geworden.
Wer sich im Frühjahr 1945 ins untere Urfttal gewagt hat, sah in eine Urlandschaft ohne Baum und Strauch, ja ohne einen Grashalm versetzt. Die Urft wand sich als kleines Rinnsal unter der zerbombten Sperrmauer, ihrem alten Bett folgend dahin. Manch einer wurde an den Bibelstelle erinnert: „Am ersten Tag schuf Gott Himmel und Erde, aber die Erde war wüst und leer.“
Nach und nach wagten sich die ersten Kräuter und Grashalme aus dem ausgetrockneten und verminten Boden und der Talsperrenwärter Christian Jansen musste in einem Minenfeld an der Sperrmauer sein Leben lassen. Die Minenräumer und die Kampfmittelbeseitigungstrupps kamen in das wieder still gewordene Urfttal. Diesen folgten 1946 der Binsfelder Schäfer Hohmann mit einer etwa tausendköpfigen Schafherde in das völlig trockene Urfttal und langsam begann sich das Leben an der Urfttalsperre wieder zu regen.
Die heftigen Bombenangriffe am 4. August und am 11. Dezember 1944 auf die Urfttalsperrmauer hatten der Mauer fünf schwere Beschädigungen beigebracht.
Auf der Mauerkrone hatten die Bomben Scharten bis zu 3,50 m aufgerissen. Wasserseitig waren die drei Bedienungstürme der Grundablässe in ihrer freien Höhe von 20 bis 24 m zusammengestürzt. Die unteren Teile waren verschüttet, aber sonst unbeschädigt geblieben. Die Grundablässe konnten aber nicht mehr bedient werden.
Der bis dahin randvolle See sank infolge der Schäden an der Mauerkrone um 3,50 m ab. Dieser Zustand dauerte zwei Monate, bis deutsche Pioniere am 11. Februar 1945 die Verschlüsse des Druckstollens am Kraftwerk sprengten. Der See floss bis auf die Sohle des Druckstollens leer.
Als im Frühjahr 1945 Verbandsbaurat Oskar Schatz, Aachen, mit seinen Mitarbeitern mitten im Chaos des Urfttals stand, war die Frage noch völlig offen, ob es überhaupt noch einen Sinn habe, mit dem Wiederaufbau der Stauanlagen zu beginnen. Die in ihre Heimat zurückkehrende Bevölkerung aber rief nach elektrischer Energie, da alle anderen Kraft- und Energiequellen ausgefallen waren.
Angesichts dieser Umstände erschien also der Wiederaufbau der Stauanlagen und die baldige Wiederinbetriebnahme des Kraftwerks Heimbach mehr als geboten.
Baudirektor Otto Schatz bemerkte in einem Aufsatz in der Zeitschrift „Die Bautechnik“ (Heft 12, 1949), Dass die Beschädigungen an den Stauanlagen wertmäßig noch zu verkraften gewesen wären. Der wirtschaftliche Nachteil habe in der nachträglichen Wirkung der Sprengungen gelegen. Dazu kamen dann – so heisst es – noch die ungeheuren Schwierigkeiten, an die Schadensstellen überhaupt heranzukommen und dass Teile der zerstörten Betriebseinrichtungen auf absehbare Zeit überhaupt nicht zu beschaffen waren.
Das ganze Talsperrengelände musste entmint werden. Aus dem Einlauf des Druckstollens wurden 2000 kg Sprengladungen entfernt. Einzelne Bombentrichter erforderten bei ihrer Verfüllung ca. 6000 cbm Erdreich. Die Einläufe der Grundablässe lagen, weil sie zehn Meter tiefer liegen als der Einlauf des Druckstollens noch unter Wasser und riesigen Schuttmassen. Bei der Freilegung der Schieber mussten Taucher zu Hilfe kommen. Um die Jahreswende 1946/47 gelang es, die Grundablässe zu öffnen. Erst so konnten der Druckstollen und das Kraftwerk Heimbach trocken gelegt werden.
Währenddessen war man darangegangen, die Schäden an der Staumauer wasserseitig zu beheben, wobei auch große Flächen des Blendmauerwerks erneuert werden mussten. Zur Heranschaffung des Baumaterials gab es nur wenige Lastkraftwagen. Der Treibstoff war rationiert und Zement hatte Seltenheitswert.
Für den Entwurf und die Oberbauleitung zeichnete Oberbaudirektor Oskar Schatz  und für die Gestaltung Architekt Diplom-Ingenieur H. G. Hofmann. Die örtliche Bauleitung lag in den Händen des Oberingenieurs Karl Grümmer. Die bauausführenden Firmen waren Peter Bauwens, Köln und Heinz Heuser, Gemünd.
Durch Schließung der neuen Schieber am Stollenausgang beim Kraftwerk Heimbach konnte Pfingsten 1946 der unkontrollierte und für die Werksanlagen schädliche Wasserablauf gestoppt werden. Durch intensive Arbeit unter widrigsten Umständen gelang es, die beiden ersten Maschinen im Kraftwerk Heimbach am 1. März 1948 wieder in Betrieb zu nehmen. Indessen gingen an der Sperrmauer die Arbeiten, allerdings unter schwierigsten Umständen weiter bis in das Jahr 1950.
Der für die Verfüllung der Scharten erforderliche Beton an der Rurseite der Sperrmauer wurde von der Mauerkrone aus durch immer wieder neu zu verlegende Stahlrohre in die Tiefe befördert. Die Beförderung der Bruchsteine für das Blendmauerwerk erfolgte mit Förderkörben.
Noch jahrelang bewegten sich die Förderkörbe entlang der gigantischen Mauer auf und ab, bis die letzte Kriegsnarbe verheilt war.

 

Aber schon bald nach Beginn der Wiederaufbauarbeiten an der Urfttalsperre erschien über dem ganzen Urfttalsperrenbereich und dem Dorf Wollseifen ein Damoklesschwert: Der Truppenübungsplatz Vogelsang.


Etwa im halben August 1946 hatten alle Beteiligten die traurige Gewissheit:
„Im Zuge militärischer Notwendigkeiten ist die Räumung des Dorfes Wollseifen zum 1. September 1946 angeordnet worden. Das zu räumende Gebiet, das in Zukunft in die militärischen Anlagen der Burg Vogelsang einbezogen werden soll, umfasst insgesamt 750 Hektar.“ In diesem Gebiet einbezogen ist der ganze Urftsee sowie das südliche Randgebiet des Kermeter...